Ödipus-Komplex
STICH-WORT
11/08/19 Rote Bänder über den Augen der Mimenmasken von Jakob Adlhart! Was für ein Sinnbild, wenn man derzeit die Hofstallgasse entlang schlendert: Der Blick fällt auf die Stele mit den Festspiel-Köpfen. Fühlt sich die Kunst blind wie die Justiz?
Von Reinhard Kriechbaum
Ja, wir wissen schon: Die Augenbinde, die Frau Justitia etwa seit dem 15. Jahrhundert trägt, ist eine positive Sache. Blind, also vorurteilsfrei und ohne Ansehen der Person, soll sie urteilen. Die Kunst wäre ziemlich arm dran, wenn sie es so moderat anginge. Da sind uns ehrlich gesagt herausfordernde, provozierende Standpunkte viel lieber.
Aber wir sind auf einer ganz falschen Fährte. Wenn man sich als Festspiel-Spaziergänger dem Eingangstor in die Felsenreitschule und das Haus für Mozart nähert, sieht man nämlich, dass das rote Band weiter geht. Es spannt sich querüber auf die andere Seite des Tors zum Brunnenfoyer, und dort steht eine sechs Meter hohe Skulptur von Achim Freyer. Ödipus-Komplex heißt das bunte Ding, zusammengesetzt aus ganz verschiedenartigen Objekten. Man erkennt beispielsweise eine Holzschere, alte Stühle, einen Boxsack, Spiegel, Köpfe und Torsi.
All die Dinge sind quasi Abfallprodukte der Arbeit an George Enescus Oper Œdipe, die heute Sonntag (11.8.) in der Felsenreitschule Premiere hat. Achim Freyer (im Bild mit Bühnenassistentin Anne Kutzner) verarbeitet in dieser Skulptur alle Requisiten und Teile des Bühnenbildes, die am Ende nicht für die Bühne gebraucht wurden. „Ich hasse diese heutige Wegwerfgesellschaft“, sagt der Künstler und Regisseur. Schließlich stecke in all diesen Stücken viel Arbeit.
Sehr lobesam in Zeiten, da der Pianist Igor Levit den Festspielen ziemlich überdimensionale ökologische Fußabdrücke vorgeworfen hat (schließlich engagieren sie Hundertschaften von Orchestermusikern). Und die Präsidentin hat sich zu Beginn des Festivals im Ö1-Morgenjournal allen ernstes fragen lassen müssen, wie sich die großen Plastik-Quallen im Bühnenbild der Idomeneo-Produktion mit heutigem ökologischen Bewusstsein verträgt. Alles ordentlich recycelbar, eh klar.
Achim Freyers Ödipus-Komplex ist in diesem Sinn vorbildliche Recycel-Kunst, wenn auch eine mit Anspielungen und Symbolen aufgeladen. Die Schere zum Beispiel stehe für das Kastrieren und Zerschneiden der Menschen in Theben. Komplexer schon die Antwort, wenn man Freyer auf die Buntheit anspricht: „Die Farbigkeit der Skulptur erklärt Achim Freyer als Mittel zwischen Weiß als die Summe aller Farben und der Bewegung und Schwarz als Stillstand. So können sich auf seiner Skulptur alle Farben entfalten, als Mittel zwischen Bewegung und Stillstand.“ So heißt es erhellend in einer Aussendung der Festspiele.
Das Kunstwerk steht jedenfalls jetzt da, unbewegt und gewiss auch gegen Umfallen wohl gesichert. Höchstens das rote Band flattert ein wenig im Wind. Ach ja, das müssen wir Achim Freyer jetzt erklären lassen: Das rote Band lasse eine Assoziation zum blinden Seher Theresias zu, der durch ein inneres Sehen sein Wissen innehabe. „Die Menschen sollten mehr mit Distanz auf die Welt schauen, um das innere Sehen zu entwickeln“, sagt Achim Freyer. Das rote Band führt er quer über den roten Teppich: „Wie eine Pforte zum inneren Sehen. So sagt Ödipus schließlich nach seiner Blendung ‚Öffnet die Pforten‘.“